Die wichtigsten Fragen auf einen Blick
Boris erzählt von Gegenwinden, die ihnen bei der Suche nach einem KiTa- und Grundschulplatz entgegenwehten.
Gefährlich, bedrohlich, das Unbekannte verkörpernd – so scheinen Behinderte oft noch immer auf Menschen und Institutionen im weitesten Sinne zu wirken. Sich etwas nehmen wollend, das ihnen nicht gehört. Andere heimtückisch zu überfallen mit ihren, so glauben noch immer viele, besonderen Bedürfnissen. Dabei sind die Bedürfnisse gar nichts Besonderes: Leben, Selbstbestimmtheit, Teilhabe, Kontakt zu Gleichaltrigen, Gesundheit, Mobilität, Familie, Freundinnen und Freunde sowie Bildung zum Beispiel. Alles ziemlich normale Dinge, nicht gleichzusetzen mit seltenen Diamanten und Truhen voller Gold. Trotzdem fühlen wir uns als pflegende Eltern oft wie Piraten, die zu viel verlangen. Die andere mit ihren Ideen überfallen und ihnen keine Chance lassen zu verhandeln. Klingt vielleicht etwas überzogen, aber in Sachen Teilhabe und Bildung haben wir es genau so erlebt.
Durch unseren Umzug mussten wir schon beim Thema Kindergarten einmal neu anfangen. Leider wiederholte sich die Offenheit und das unkomplizierte Miteinander des Kindergartens vom alten Wohnort nicht. Es gebe für Kinder wie Samuel doch spezielle Einrichtungen und man müsse auch mal vor seinen Mitarbeitenden stehen – so die Aussage der zuständigen höheren Angestellten des Kindergartenträgers am neuen Wohnort.
Ohne unseren Sohn zu kennen, wurde ein Urteil gefällt. Allein unsere Frage nach einem Betreuungsplatz glich einem Überfall. Einem Überfall auf die Routinen, das Bekannte, die Komfortzone. Trotz unserer Offenheit (die gar nicht mehr so leicht fällt, wenn im ersten Gespräch bereits so hart gekämpft wurde) und unseren – im übertragenen Sinne – Verhandlungsangeboten, inklusive eines von uns initiierten Kennenlernens von Samuel und Schlichtungsgesprächen, wurde nichts aus der Betreuung bei eben diesem Träger.
Dank eines mutigen Bürgermeisters, der in uns mehr als Piraten sah, wurde aufgrund dieser Geschichte der neue Kindergarten an einen anderen Träger vergeben. Einen, der generell offen auf jeden Menschen zugeht und mit uns in den Austausch ging. Hier gab es neben ganz normalen Dingen (jedenfalls für pflegende Eltern normal) wie Anträgen, Therapeutengesprächen, Notfallplänen, der Frage nach Barrierefreiheit oder nach der Begleitung durch den Pflegedienst einfach nur eins: grenzenlose Vorfreude auf ein neues Kind in der KiTa. Und das, obwohl Samuel schon damals nie ohne Säbel aus dem Haus gegangen bzw. gefahren ist.
Ihr ahnt es, unsere Reise als ungewollte Piraten war noch nicht vorbei. Nicht umsonst lautet die Überschrift „KiTa- und Grundschul-Piraten“. Denn leider begegnete uns man auch hier zu Beginn mit großer Vorsicht. Man wollte uns telefonisch abwimmeln, wieder ohne ein Kennenlernen, weil es doch spezielle Einrichtungen für Kinder wie Samuel gebe. Déjà-vu.
Weil wir aber nicht bereit waren, in dem uns auferlegten Kampf einfach aufzugeben, starteten wir erneut eine Offensive. Zwischen und auch nach den beiden normalerweise üblichen Terminen – der Schuleingangsuntersuchung und der Anmeldung in der Schule selbst – hatten wir einfach unfassbar viel mehr zu tun.
Beratungsgespräche in der KiTa nur mit uns und den Erzieherinnen. Gespräche in der KiTa mit der Schulleitung, dem Mobilen Sozialpädagogischen Dienst, den Therapeutinnen, den Erzieherinnen, einem Berater für Unterstützte Kommunikation, uns und teilweise auch Samuel. Gespräche mit dem Pflegedienst über Veränderung der Dienstzeiten, Aufstellung eines Notfallplans usw. Ein Termin in der Schule mit der Schulleitung, der stellvertretenden Schulleitung, dem Bürgermeister, einer Vertreterin des Schulamtes, dem Mobilen Sozialpädagogischen Dienst, unserem Anwalt und uns – inklusive Besichtigung der Räumlichkeiten in der Schule. Diverse Mails und Telefonate. Die Beweislast immer bei uns. Um verständlich zu machen, dass wir und Samuels Schulbesuch keine Gefahr darstellen. Dass wir niemandem etwas wegnehmen wollen, sondern auf ein Miteinander aus sind. Ein Miteinander, das für alle bereichernd ist.
Hoffnung in diesem ungewollten Kampf schenkten uns einzelne Menschen, wie zum Beispiel eine Schulangestellte. Sie nahm uns während der Besichtigung der Räumlichkeiten zur Seite und sagte recht leise, dass sie Angst habe. Angst, weder Samuel noch den anderen Kindern gerecht werden zu können. Sie könne sich nicht vorstellen, wie genau ein Tagesablauf aussehe und wolle deshalb noch einmal fragen. Ob denn auch wirklich immer jemand dabei sei, der medizinisch auf ihn achtgibt?
Halleluja! Jemand hatte bemerkt, dass man mit uns sprechen kann. Dass das alles kein Überfall, sondern mehr das gemeinsame Schreiben einer neuen Geschichte ist.
Als Samuels Klassenlehrerin uns zum ersten Mal traf, fragte sie uns, was wir uns vom Besuch einer Regelschule erhofften. Nun, nach dem ersten Schuljahr, hat sie die Antwort selbst gefunden: Samuel sei ein ganz toller Junge, dessen Anwesenheit ein Gewinn für alle darstelle. Er ist voll integriert und macht bei jeglichen Ausflügen mit, egal wie viel Mehraufwand es (für uns Eltern oder andere) bedeutet. Er singt Lieder auf dem Schulfest. Bearbeitet all seine Aufgaben am Tablet. Er fährt mit zur Bücherei, auch wenn diese nicht barrierefrei ist. Sogar bei der Schulhaus-Übernachtung zum Abschluss des Schuljahres war er dabei. Nachdem ein Mädchen, das ihn schon aus der KiTa kennt, sagte, dass er nun mal etwas anders schlafe als sie selbst und eben diese ganzen Geräte brauche, kam ein weiteres Mädchen dazu und rief: „Und ich hab ‘ne Zahnspange in der Nacht!“
Wenn wir also beim Piratenvergleich bleiben wollen: Egal ob behindert oder nicht, egal ob Zahnspange, Beatmungsgerät, Brille oder gar kein Hilfsmittel – alle Kinder gehören zur Crew. Jedes hat Stärken, jedes hat Schwächen. Genau deswegen hat jedes seinen Platz. Wir als Eltern eines behinderten Kindes möchten niemanden überfallen. Wir sind immer zu Gesprächen bereit, wenn man sich traut, hinter die Augenklappe zu schauen. Okay, das ist ein blöder Vergleich. Aber: Meistens kann man anschließend sogar zusammen einen Schatz finden. Nämlich die völlige Unvoreingenommenheit von Kindern. Das unbelastete Miteinander. Die Freude und das Strahlen in ihren Gesichtern. Die Gemeinschaft und das Lernen voneinander. Eine positive Selbstverständlichkeit.
Schätze, die so viel besser sind als Saphire, Rubine, Smaragde und tonnenweise Gold.
Also los Piraten, auf zu neuen Ufern!
Inhaltlich geprüft am 10.10.2024: M-DE-00023846