Die wichtigsten Fragen auf einen Blick
Julian erzählt, welche positiven Auswirkungen ein Mannschaftssport auf die soziale Entwicklung und die Selbstwahrnehmung haben kann.
Powerchair Hockey ist meine große Leidenschaft seit dem Grundschulalter. In meinem letzten Beitrag habe ich Euch erzählt, wie ich zu dem rasanten Mannschaftssport gekommen bin und was mich daran so sehr fasziniert, dass ich wahrscheinlich nie davon wegkommen werde, weder als Spieler noch als Organisator oder Trainer. In diesem Beitrag möchte ich beschreiben, wie der Sport Menschen im wahrsten Sinne des Wortes stärken kann. Denn egal zu welchen Bewegungen man körperlich in der Lage ist, Powerchair Hockey ist immer Therapie für den Körper und hat vor allem positive Auswirkungen auf die Selbstwahrnehmung und auf soziale Fähigkeiten.
Aber um eines vorwegzunehmen: Ich behaupte keinesfalls, dass ich allein durch den Sport zu diesem selbstbewussten, fröhlichen und kontaktfreudigen Menschen geworden bin. Selbstverständlich spielen da auch das familiäre Umfeld, die Erfahrungen in Kindheit und Jugend, die Ausbildung, der Beruf, Partnerschaften und Freundschaften eine Rolle. Aber definitiv hat meine sportliche Aktivität zu der Entwicklung meiner positiven Eigenschaften beigetragen. Und abgesehen von mir, erlebe ich die therapeutischen Effekte des Sports auch bei vielen anderen jungen Leuten mit Muskelerkrankung. Ich möchte Euch deshalb von drei Kolleginnen und Kollegen aus meiner Mannschaft erzählen und ich nenne sie Raphael, Charlotte und Marie*.
Als Charlotte das erste Mal zum Training kam, war sie still, unsicher, unangepasst und mitten in der Pubertät. Beim Spielen schien sie wenig Freude zu haben und für mich war es ein Rätsel, warum sie trotzdem regelmäßig teilnahm. Auch ihre Mutter zeigte sich erstaunt, aber froh darüber. Nach ihrer Aussage lebte Charlotte in der Schule „abgekapselt“ von den Mitschülerinnen und -schülern, hatte abgesehen von ihren Cousinen keine Freundinnen und haderte mit ihrem Muskelschwund und allem, was damit einhergeht. Mit der Zeit aber taute sie auf.
Immer öfter sah ich sie lächeln, sowohl auf dem Spielfeld als auch abseits desselben, und immer häufiger sprach sie auch ohne selbst angesprochen worden zu sein. Man kann natürlich behaupten, dass das ein normaler Prozess in einer neuen Umgebung und in einem sozialen Gefüge ist. Aber Lottes Mutter berichtete, dass sie sich auch zu Hause und vor allem im Umgang mit Bekannten viel mutiger, kontaktfreudiger und selbstbewusster verhielt.
Lotte blieb weiterhin „am Ball“ und wurde nach ca. zwei Jahren zu einem wirklich festen Bestandteil der Mannschaft und zu einer Person, die auch im sozialen Rahmen außerhalb des Trainings und des Spiels eine aktive Rolle einnahm. Auch wenn die meisten von uns ca. drei Jahre älter als sie waren, baute sie nicht nur soziale Kontakte, sondern auch echte Freundschaften auf, die bis heute bestehen.
Bei Raphael war es ein ganz spezieller sozialer Kontakt, der sich innerhalb unserer Mannschaft ergab und vertiefte. Ich kannte ihn schon vor seiner „sportlichen Karriere“ als einen fröhlichen und humorvollen 30er, der gerne in den Tag hineinlebte, der wenig Ziele hatte, der die Freiheit liebte und der sich nicht binden wollte. Als er aber auf der Weihnachtsfeier unseres Vereins eine Sportlerin aus einer anderen Abteilung kennenlernte, muss es ziemlich schnell und ziemlich heftig gefunkt haben. Die Romanze wurde schnell zu einer festen Beziehung und heute leben die beiden in einer Partnerschaft. Sie ist als Schiedsrichterin und Kassenführerin auch ein wichtiger Bestandteil unserer Mannschaft geworden.
Raphael hat aber nicht nur seine Liebe und Freude an einer festen Bindung gefunden. Angetrieben von der guten Teamchemie, von dem Engagement seiner Partnerin und nicht zuletzt vom Spaß am Sport, hat er Verantwortung in der Mannschaft übernommen – und im Alter von fast 40 Jahren einen beeindruckenden Ehrgeiz entwickelt. Obwohl ihm das früher nicht wichtig war, möchte er sich jetzt in jedem Training ein Stückchen verbessern. Und er hat das große Ziel, Nationalspieler zu werden.
Marie kam erst vor zwei Jahren und als Zweitklässlerin in meine Jugendsportgruppe. Sie war aufmerksam, gedankenschnell und dominierte schon nach ein paar Wochen das Spiel. Aber mir fiel auf, dass sie keine Teamspielerin war, weder im sportlichen Sinne noch im übertragenen Sinne. Schwächen der Anderen konnte sie nur schwer verstehen und akzeptieren. Siege und Niederlagen waren für sie überspitzt gesagt nicht das Ergebnis einer Teamleistung, sondern das Ergebnis allein ihrer Leistung. Und bei Problemen, Unzufriedenheit oder Kritik geriet sie leicht in Rage.
Einige Male habe ich mit Marie darüber gesprochen – in der Problemsituation selbst und auch hinterher – und sie war sehr zugänglich für meine Ratschläge. Nach Siegen verhält sie sich zwar noch immer ein bisschen wie eine Prinzessin, aber generell sieht sie ihre Mitspielerinnen und Mitspieler, hilft ihnen, tröstet sie und jubelt mit ihnen. Und wenn es mal nicht läuft, wird sie nicht mehr wütend, sondern spricht mit ihren Teammitgliedern oder mit mir und versucht, eine andere Herangehensweise und damit eine Lösung zu finden.
Wenn man Marie fragt, was ihr an dem Sport so gefällt, antwortet sie aber verständlicherweise nicht „es ist schön, gemeinsam ein Ziel erreichen zu können“. Das wäre viel zu akademisch. Sie antwortet wie ein Kind – simpel, präzise und ehrlich: „Powerchair Hockey macht mega Spaß!“ Und ich denke mir immer, eigentlich ist das doch das Wichtigste.
Auch wenn für mich die sozialen Benefits im Vordergrund stehen, hat Powerchair Hockey auch positive Auswirkungen auf die körperliche Gesundheit. Es versteht sich eigentlich von selbst: Man ist in Bewegung, durch die sportliche Aktivität ist man geistig und körperlich angespannt – und immer wieder geht man bis an seine Grenzen, egal ob man nur noch einen Finger bewegen kann oder den gesamten Oberkörper. Durch diese Beanspruchung wird nicht nur die Muskelkraft und Beweglichkeit gestärkt, sondern auch Atmung, Herz und Kreislauf.
Auch aus diesen Gründen ist Powerchair Hockey von den deutschen Krankenversicherungen als Rehabilitationssport anerkannt. Das bedeutet, es wird dem regelmäßigen Sporttreiben eine therapeutische Funktion zugeschrieben – und man kann sich die Übungseinheiten als Ergänzung zur Physiotherapie von der Ärztin oder vom Arzt verordnen lassen. Die Übungsleitenden haben eine spezielle Ausbildung im Behindertensport und können die Übungseinheiten mit den Krankenkassen der Spielenden abrechnen.
Es wird klar, der Sport hat sich in den vergangenen Jahren – auch durch seine positiven therapeutischen Auswirkungen – eine breite Basis aufgebaut und eine gute Struktur entwickelt. Meine Aufgabe als Fachbereichsvorsitzender im DRS ist es, diese Struktur weiter zu stärken. Was das bedeutet und wie vielfältig die Arbeit dafür ist, beschreibe ich in meinem nächsten Beitrag.
*Aus Datenschutzgründen wurden die Identitäten der erwähnten Personen verändert.
Inhaltlich geprüft am 17.12.2024: M-DE-00024640