Die wichtigsten Fragen auf einen Blick
Julian erzählt von seiner Sportbegeisterung und seinem Hobby, dem Powerchair Hockey.
„Menschen mit SMA lesen gerne, sind clever und in der Freizeit spielen sie Schach.“ – Ein Vorurteil wie aus dem Lehrbuch. Aber ein Vorurteil, das man immer wieder hört, vor allem in Bezug auf Schach. Schließlich eignet sich dieser Denksport doch hervorragend für uns, die wir uns schlecht bewegen können und daher sehr viel „Arbeit mit dem Kopf“ leisten müssen.
Wer aber glaubt, dass man mit SMA nur Denksport ausüben kann, der irrt gewaltig. Es gibt zahlreiche Sportarten, die man mit einer Muskelerkrankung betreiben kann, und die sich nicht nur auf einem Spielbrett abspielen. Powerchair Football und Rollstuhl-Boccia sind nur zwei – ich selbst spiele Powerchair Hockey.
Powerchair Hockey ist ähnlich dem Fußgänger-Sport Floorball – hinsichtlich der Spielelemente: Schläger, gelochter Plastikball, zwei kleine Tore, normaler Hallenboden, Bande als Spielfeldbegrenzung –, steht aber für Hockey im Elektro-Rollstuhl. Dabei führen die Spielerinnen und Spieler den Schläger entweder in der eigenen Hand oder er ist als sogenannter T-Stick fest an den Rollstuhl montiert – je nach ihren körperlichen Fähigkeiten und ihrer Rolle auf dem Spielfeld. Und selbstverständlich muss der Ball möglichst oft ins gegnerische Tor. Das geschieht mit blitzartigen Rollstuhlmanövern, geschickten Pässen, taktischen Blöcken und präzisen Torschüssen. Der Sport lebt also von Geschwindigkeit und Action und ist damit ein krasses Gegenteil zum Schach.
Ein Großteil der Dynamik resultiert natürlich aus den Rollstühlen. In der Bundesliga sowie in der Nationalmannschaft werden ausschließlich spezielle Sportrollstühle gefahren, die sehr schnell reagieren, eine Endgeschwindigkeit von 17–18 km/h erreichen und verständlicherweise sehr stabil gebaut sind. Diese Sportgeräte werden nicht von Krankenversicherungen gezahlt, eine Finanzierung muss also privat organisiert werden oder in Einzelfällen über die Eingliederungshilfe.
Bei kleineren Turnieren oder in Schulen wird der Sport aber meist im Alltagsrollstuhl ausgeübt. So ist es allen möglich, dabei zu sein und Powerchair Hockey kennenzulernen. Auch Menschen, die im Alltag einen manuellen Rollstuhl nutzen, sind willkommen. Entweder spielen in diesem Rollstuhl oder sie bekommen für die Teilnahme am Wettbewerb einen Elektro-Rollstuhl zur Verfügung gestellt.
Die meisten Menschen sind wirklich fasziniert, wenn sie den Sport zum ersten Mal sehen oder selbst ausprobieren. In Deutschland gibt es ca. 20 Vereine und fast genauso viele Schulmannschaften, die Powerchair Hockey oder E-Ball anbieten. (E-Ball ist eine leichte Abwandlung, bei der ein Golfball und ausschließlich fest montierte T-Sticks verwendet werden.) Ich selbst habe den Sport schon 1989 kennengelernt und seitdem stellt er meine große Leidenschaft dar.
Schon als Kindergartenkind war ich sehr sportbegeistert. Ich bin sehr gerne mit meinem Rollstuhl herum geflitzt oder habe mit einem Ball gespielt. Wenn ich an Sportplätzen oder Turnhallen vorbei gekommen bin, wollte ich unbedingt immer hineinschauen, und, wenn dort etwas los war, auch zuschauen, egal ob beim Turnen, beim Tennis oder beim Fußball. Und einmal bin ich auf dem Weg vom Kindergarten zurück nach Hause wohl auch an einer Turnhalle vorbeigekommen, in der gerade Powerchair Hockey gespielt wurde. Meine Mutter erzählt immer, dass meine Augen geleuchtet haben, als ich die jungen Leute dabei beobachtet habe, wie sie in den Rollstühlen sitzend mit ihren Schlägern einem Ball hinterher gejagt sind und ihn ins Tor geschossen haben.
Auch wenn ich nicht mal halb so alt war wie die Anderen, wollte ich unbedingt dabei sein. Und schon in der nächsten Woche hatte ich mit zwei Schrauben einen Schläger am Rollstuhl fixiert und habe mich mutig ins Getümmel gestürzt. Es war für mich als sportbegeistertes Kind der pure Spaß! Und ich wurde schnell besser.
Eventuell hatte ich einen Vorteil darin, dass mein Rollstuhl ein wenig schneller war als die der anderen. Der Sportlehrer bzw. Trainer behauptete stattdessen, dass meine Auffassungsgabe und mein Spielverständnis bemerkenswert waren. Wie dem auch sei, ich lernte, mit meinem Schläger den Ball zu kontrollieren, schnell auf Veränderungen im Spiel zu reagieren und mich richtig auf dem Feld zu positionieren.
Wie Powerhockey in Aktion aussieht, kannst Du bei Johanna, 22 Jahre alt, und Nico, 24 Jahre alt, in dem Video und auf unserem Instagram-Kanal sehen. Beide haben SMA, spielen auf Bundes- und Nationalebene und geben mit ihren Teams immer Vollgas. Spaß steht für die beiden im Vordergrund, aber auch die Geschwindigkeit und das Adrenalin auf dem Feld faszinieren sie.
Nach zwei Jahren Training und einzelnen Freundschaftsspielen stand mein erstes Turnier an: die offene Bayerische Meisterschaft in Coburg. Unsere junge Mannschaft wurde Vorletzter und ich schoss kein einziges Tor. Aber obwohl ich grundsätzlich ein ehrgeiziger Spieler war, waren diese Erfolge nicht das Wichtigste. Ich hatte sehr viel Spaß! Und ich gewann meinen ersten Pokal – was gibt es Schöneres für ein Kind?!
Auf Turnier folgte Turnier. Schnell war ich mehrmals pro Jahr und in ganz Deutschland unterwegs. Mit den Ballbusters erreichte ich den dritten Platz bei der Deutschen Meisterschaft und holte zwei Bayerische Meistertitel. 2005 starteten wir in die zweite Bundesliga und 2012 stiegen wir in die erste Bundesliga auf.
Obgleich der Sport schon in den Neunzigern ein Mannschaftssport war, wurde es mit immer besseren Rollstühlen und zunehmender Qualität der Teams immer wichtiger, als intakte Mannschaft zu spielen. Damit meine ich nicht nur den Zusammenhalt in der soziale Ebene, die gegenseitige Unterstützung und die Gewissheit, ein echtes Team zu sein, welches gemeinsam durch Dick und Dünn, durch Siege und durch Niederlagen geht. Ich meine mit intakter Mannschaft auch die Wichtigkeit, sportlich alle Positionen auf dem Feld wertzuschätzen und gut zu besetzen. Denn egal, ob eine Spielerin körperlich stark oder ein Spieler körperlich schwach ist, im Powerchair Hockey haben alle eine wichtige Funktion auf dem Feld und werden gebraucht.
Dies wird durch ein Klassifizierungssystem erwirkt, welches 2005 eingeführt wurde. Allen Spielerinnen und Spielern wird je nach Ihren körperlichen Fähigkeiten eine Klassifizierungspunktzahl zwischen 0,5 und 5,0 zugeordnet. Die fünfköpfige Mannschaft auf dem Feld darf dann insgesamt nicht mehr als 12,0 Klassifizierungspunkte umfassen. In jeder Mannschaft herrscht dadurch eine gute Balance zwischen körperlich starken und schwachen Spielerinnen und Spielern – und auch im Vergleich zueinander sind die Mannschaften fair aufgestellt.
Meiner Meinung nach ist das eine der größten Stärken unseres Sports. Man kann mit den unterschiedlichsten (auch sehr schweren) Behinderungen teilnehmen und das Spiel ist trotzdem fair. Eine solche Diversität zwischen den Spielerinnen und Spielern findet man in keiner anderen Rollstuhl-Mannschaftssportart!
Auch aus diesen Gründen, aber vor allem aufgrund meiner Faszination für den Sport als Spaßfaktor für Menschen mit schweren Behinderungen, übernahm ich als Erwachsener immer mehr organisatorische Aufgaben. Zunächst in unserem Verein und ab 2009 auch im nationalen Verband, als Teammanager der Nationalmannschaft und als Fachbereichsvorsitzender. Über meine ehrenamtlichen Tätigkeiten lest Ihr in einem weiteren Blog-Beitrag.
Im nächsten Beitrag beschreibe ich, welche therapeutisch positiven Wirkungen der Sport im Rollstuhl hat. Und wenn Ihr jetzt schon Lust auf Powerchair Hockey (oder Powerchair Football) bekommen habt, schaut Euch doch mal um auf:
Inhaltlich geprüft am 10.10.2024: M-DE-00023595