Die wichtigsten Fragen auf einen Blick
Yanis‘ Mutter Katja erzählt, wie sie als Familie mit der Diagnose „SMA“ im Alltag umgehen – denn das ist der Schlüssel: viel Lebensfreude.
Wenn das Leben Regen schickt, so sagt man, solle man im Regen tanzen. Doch was, wenn der Regen ein Sturm ist und die Diagnose SMA lautet?
Für uns wurde schnell klar, dass wir diese Diagnose nicht als unüberwindbares Hindernis sehen wollten, sondern als herausfordernden Teil des Lebens, das es zu gestalten galt. Wir machten es zu unserem Ziel, unserem Sohn ein Leben voller Freude, Motivation und Selbstbestimmung zu ermöglichen, so wie bei anderen Kindern auch. Der Weg dorthin war sicherlich nicht immer einfach, aber die eigene Haltung war relevant, um SMA als einen Bestandteil unseres Lebens zu akzeptieren, ohne dass es unser Leben bestimmt.
Es war uns wichtig, dass unsere Erziehung nicht von der Erkrankung dominiert wird. Keine Sonderbehandlung, kein Mitleid – stattdessen ein ganz normaler Alltag mit Regeln, Grenzen, Konsequenzen und auch deutlichen „Neins“.
Anfangs fiel uns dies natürlich schwer, da SMA nun einmal ein zentraler Bestandteil aller Gedanken war. Wir sagten uns jedoch: „Unser Kind soll sich nicht bemitleiden, sondern sich des Lebens freuen, also sollten wir es genauso machen.“
Kinder haben eine natürliche Begeisterung fürs Leben, und die wollten wir auch bei unserem erkrankten Sohn nicht dämpfen … ganz im Gegensatz zu anderen Menschen. An dieser Stelle sei ein Beispiel angebracht: Bei einem Flohmarktbesuch raste unser Kind einmal im Rollstuhl mit lautem Lachen einen Abhang hinunter. Ein Passant blieb stehen, runzelte verzweifelt die Stirn und stieß entsetzt hervor: „Das arme Kind!“. Ich war verwirrt: Ein jauchzendes, lachendes Kind, das Spaß hat, sollte „arm“ sein?
Auch wenn ich nie hinsehen konnte, wenn er solche Aktionen durchführte, vermittelte unser Sohn mir immer deutlich, wie viel Freude er daran hatte, und ich ließ ihn stets den Moment in vollen Zügen genießen. Genauso wie gesunde Kinder hatte er den Drang, sich auszuprobieren, Grenzen auszutesten und etwas zu wagen. Mir blieb dabei regelmäßig das Herz stehen, doch diese natürliche Lebensfreude auszuleben – das wollten wir unbedingt fördern.
Mit SMA gibt es Situationen, die andere Eltern vielleicht nicht kennen. Zu einem Zeitpunkt, als es noch keines der heutigen Medikamente gab, unser Sohn acht Jahre alt war und wir – wie jede einzelne Woche in jedem einzelnen Jahr – bei der Physiotherapie ankamen, weigerte er sich, aus dem Auto auszusteigen und hinzugehen. Als Kind nicht zur Therapie gehen zu wollen ist verständlich, besonders, wenn trotz der damit verbundenen Anstrengung und geforderten Bewegung die Kraft nachlässt und das Kind immer wieder erlebt, dass es etwas nicht mehr kann, was vorher ging. Das ist frustrierend. Ich erklärte ihm, dass er ohne Physiotherapie noch schneller Kraft abbauen würde, erklärte in einfachen Worten die Wichtigkeit von Sport und überließ die Entscheidungsverantwortung schließlich meinem Sohn … und dann gingen wir rein.
Unseren Sohn alters- bzw. reifegerecht in die Verantwortung mit einzubeziehen, hat immer wieder den Kampf vermieden, der bei Druck und Zwang drohte. Meist hat es ihn sogar motiviert, über Lösungsmöglichkeiten nachzudenken und seinen eigenen Weg zu finden. Zunächst im Kleinen und mit der Zeit in immer größeren Bereichen. Heute geht er selbstbestimmt durchs Leben.
Eines Tages, als ganz kleiner Junge, kam unser Sohn bedrückt zu mir und meinte, an seiner Situation „schuld“ zu sein. Er verstand nicht, weshalb er so anders war als andere: „Ich will ja anders, aber mein Bein will nicht.“ In solchen Momenten ist es entscheidend, als Eltern Ruhe zu bewahren und Verständnis zu zeigen. Ich stimmte ihm zu und erklärte, dass sein Körper einfach nicht das tat, was er ihm sagte, weil dieser dazu nicht imstande war und dass er nichts dafürkönne. Niemand trägt Schuld. Nicht das Kind, nicht die Eltern, niemand! Was sich nicht ändern lässt, sollte man annehmen – um nicht zu sagen: „So ist das Leben!“ Virginia Satir, eine der bedeutendsten Familientherapeutinnen, hat das sehr treffend formuliert: „Das Leben ist nicht so, wie es sein sollte. Es ist, wie es ist. Die Art und Weise damit umzugehen, macht den Unterschied.“ Und daran orientieren wir uns bis heute.
Wir hatten es uns zur Gewohnheit gemacht, mit den Schwankungen und dem Fortschreiten der Erkrankung zu leben. Den Tag zu nehmen und zu gestalten mit dem, was an dem Tag machbar war. Und wenn eines Tages die Kraft für etwas fehlte, was am Vortag noch ging, dann schauten wir, was stattdessen möglich war. Das war für mich als jemand, die leidenschaftlich gerne vorausschauend plant, zunächst eine große Herausforderung. Doch merkte ich schnell, dass die Einstellung „Heute ist heute und morgen ist morgen“ in dieser Situation weitaus gesünder ist.
Kinder gehen oft pragmatischer mit Veränderungen und Tiefpunkten um, als die Erwachsenen erwarten. Das zeigte sich vor allem, als unser 12-jähriger Sohn zu einem Zeitpunkt, da es ihm zunehmend schwerer fiel aufzustehen oder gar einen Schritt zu laufen, ganz für sich eine Entscheidung traf. Er hatte es sich reiflich überlegt und uns dann eines Tages ganz ruhig mitgeteilt, dass er von nun an nicht mehr aufstehen würde. Er erklärte uns, dass allein das Aufstehen für ihn so anstrengend sei wie für andere ein Marathonlauf und dass er diese Anstrengung nicht mehr auf sich nehmen würde. Für uns Eltern war das ein Schock. Für ihn jedoch war das Schwierigste daran, unseren Schock zu erleben. Dass er nicht mehr laufen würde, belastete ihn weitaus weniger.
Herausforderungen sind nicht unbedingt dazu da, allein bewältigt zu werden. Der Kontakt zu anderen Betroffenen und der Austausch bei Veranstaltungen wie Symposien helfen ungemein. Gemeinsam über Probleme, Schwierigkeiten und Lösungen zu sprechen, Geschichten zu hören und voneinander zu lernen, gibt Kraft und Ideen! Man stellt fest, dass man nicht allein ist und bekommt Ansätze, auf die man sonst vielleicht nie gekommen wäre. Gleichzeitig ist es eine fantastische Gelegenheit, gemeinsam zu lachen, Spaß zu haben und sich des Lebens zu freuen.
SMA mag zwar eine ständige Begleitung in unserem Leben sein, doch sie definiert weder uns noch unseren Sohn. Unsere Haltung, die Freude am Leben zu bewahren und die Verantwortung gemeinsam zu tragen, hat uns immer wieder gezeigt, dass es nicht die Diagnose ist, die das Leben bestimmt, sondern der Umgang damit. So wie wir im Regen tanzen, haben wir auch mit SMA unseren eigenen Weg gefunden – mit Offenheit, Zuversicht und einer ungebrochenen Lebensfreude.
Inhaltlich geprüft am 12.03.2025: M-DE-00025356