Die wichtigsten Fragen auf einen Blick
Die 5q-assoziierte SMA ist eine progressive Erkrankung, die den ganzen Körper betrifft (Multiorgan-Erkrankung). Neben den Muskeln, der Atmung und der Schluckfunktion werden auch noch andere Organe wie das Herz, die Bauchspeicheldrüse, die Leber sowie der Darm beeinträchtigt und es können eine Wirbelsäulenverkrümmung (Skoliose), Schmerzen, Fatigue (krankheitsbedingte chronische Müdigkeit und Erschöpfung) und psychologische Probleme auftreten.1, 3-5
Die Erklärung zu vielen medizinischen Begriffen, die in diesem Text vorkommen, findest Du in unserem Glossar.
So ergeben sich bei der SMA-Therapie vielfältige Herausforderungen auf unterschiedlichen Gebieten. Daher sollte ein interdisziplinäres Expertenteam Betroffene betreuen. Optimal ist es, wenn alle Fäden beim Neurologen oder Neuropädiater zusammenlaufen.1,6 Weitere Informationen dazu findest Du im Leitfaden zu den internationalen Therapiestandards für Spinale Muskelatrophie.
Die Behandlung von SMA folgt einem multidisziplinären Ansatz.1 Deshalb besteht ein Behandlungsteam üblicherweise aus Ärzten verschiedener Fachrichtungen, Therapeuten und Experten aus sozialen Berufen (s. Abb. 1).7
Abb. 1: Das Behandlungsteam eines SMA-Patienten für einen multidisziplinären Ansatz (adaptiert nach Mercuri et al. 2018)1
Der Umfang der Betreuung richtet sich nach der Schwere der Erkrankung und den persönlichen Komplikationen der Patienten – sie ist also für jeden Patienten individuell zugeschnitten. Die SMA-Behandlung sollte in speziellen Behandlungszentren erfolgen.
Die weltweit anerkannten „International Standards of Care for SMA“ (Standards der Versorgung) geben Hinweise darauf, dass ein proaktiver Behandlungsansatz inklusive einer konsequenten Physiotherapie das Leben von SMA-Patienten positiv unterstützen kann.1,2
Speziell für erwachsene Patienten und Familien aufbereitet
Die Standards der Versorgung im Original (für Fachkräfte)
Deutsche Übersetzung der erwachsenen- und familienfreundlichen Aufbereitung
Zur Beurteilung von SMA und ihres Krankheitsverlaufs gibt es verschiedene Tests und standardisierte Messskalen. Ärzte und Physiotherapeuten bewerten so die vorhandenen motorischen Fähigkeiten bei SMA-Patienten und deren Entwicklung während des Krankheitsverlaufs.8
Das Ziel einer SMA-Behandlung ist genauso individuell wie der Patient selbst. Sie richten sich jedoch immer nach dem Schweregrad der Erkrankung sowie dem Alter des Betroffenen. Bei schweren Verlaufsformen (SMA Typ 1) ist das vorrangige Ziel, ein längeres Überleben bei akzeptablem Sicherheitsprofil zu ermöglichen und die motorischen Fähigkeiten, die Atmung sowie die Schluckfunktion zu verbessern.9 Bei milderen Verlaufsformen (SMA Typ 2 oder 3) ist das vorrangige Ziel, die motorischen Fähigkeiten sowie den Gesundheitszustand des Patienten zu stabilisieren oder sogar zu verbessern und somit die bestehende Selbstständigkeit zu erhalten.9
Bei seltenen Erkrankungen wie der SMA ist es besonders wichtig, den Verlauf mit und ohne medikamentöse Therapie in einem Register wie zum Beispiel SMArtCARE systematisch zu erfassen.
Seit ein paar Jahren gibt es nun auch die Möglichkeit, SMA medikamentös zu behandeln. Betroffene jedes SMA-Types können von den neuartigen Therapieansätzen profitieren. Der Maßstab hierbei sind die Erwartungen jedes einzelnen Patienten an die Behandlung. Egal ob kleine oder große Verbesserungen oder einfach nur eine Stabilisierung der vorhandenen der motorischen Fähigkeiten - für alle gilt: je früher die Behandlung beginnt, desto besser.
Seit 2017 sind verschiedene medikamentöse Therapien für Spinale Muskelatrophie in Deutschland verfügbar. Weitere Therapieansätze befinden sich von verschiedenen Firmen in der Entwicklung. Zurzeit gibt es zwei unterschiedliche Therapieansätze: Spleißmodifikatoren und Gentherapie. Beide haben das Ziel, die Menge an funktionsfähigem SMN-Protein im Körper zu erhöhen:
Die Gentherapie funktioniert über das SMN1-Gen: Ein verändertes, ungefährliches Virus bringt ein fehlerfreies SMN1-Gen in menschliche Zellen ein. Spleißmodifikatoren gehen über das SMN2-Gen: Das Medikament verbessert die Übersetzung des SMN2-Gens in funktionsfähiges SMN-Protein.
Im Mai 2017 wurde die erste SMN-spezifische, medikamentöse Therapieoption für SMA-Betroffene in Deutschland zugelassen. Hierbei handelt es sich um ein sogenanntes Antisense-Oligonukleotid (ASO), ein synthetisches, einzelsträngiges Nukleinsäure-Oligomer. Das ASO ist ein Spleißmodifikator: Durch verändertes Spleißen des SMN2-Gens können höhere Spiegel an funktionsfähigem SMN-Protein hergestellt und so das Absterben der Motoneurone verhindert werden (s. Abb. 2).10 Das Medikament wird SMA-Patienten in regelmäßigen Abständen intrathekal mittels einer Lumbalpunktion verabreicht, um im Zentralnervensystem, vor allem an den Motoneuronen, zu wirken.
Im Mai 2020 wurde eine zweite medikamentöse Therapieoption für SMA Typ1 oder SMA Patienten mit bis zu 3 Genkopien des SMN2-Gens in der EU zugelassen: Bei der sogenannten Gentherapie wird eine funktionsfähige Kopie des SMN1-Gens mithilfe eines intravenös verabreichten Adenovirus-assoziierten Vektors (AAV) in die Körperzellen des SMA-Patienten eingeschleust. Diese intakte Kopie ersetzt das defekte SMN1-Gen und es kann ausreichend SMN-Protein hergestellt werden (s. Abb. 2).11-14 Die Verabreichung erfolgt einmalig intravenös. Die verabreichte Menge ist abhängig vom Körpergewicht des Kindes.15
Ein weiterer Therapieansatz wurde im März 2021 in Deutschland zugelassen. Hierbei handelt es sich um eine sogenannte niedermolekulare Substanz (Small Molecules). Auch sie wirkt als Spleißmodifikatoren am SMN2-Gen und führt dazu, dass mehr funktionsfähiges SMN-Protein gebildet wird. Small Molecules können über den Mund eingenommen oder per Sonde direkt in den Magen verabreicht werden und wirken sowohl im Zentralnervensystem als auch in anderen Geweben des Körpers.16-21
Weitere Therapieoptionen befinden sich in der Erforschung.
Abb. 2: Medikamentöse Therapieansätze zur Behandlung der SMA. Links ist die SMN-Proteinproduktion in SMA-Patienten dargestellt, bei der nur wenig funktionsfähiges SMN-Protein hergestellt wird. Eine Therapiemöglichkeit ist die Gentherapie (Darstellung in der Mitte), bei der ein intaktes SMN1-Gen in den Körper eingeschleust wird und so mehr funktionsfähiges SMN-Protein gebildet werden kann. Die zweite Therapiemöglichkeit ist die SMN2-Spleißmodifikation (Darstellung rechts). Durch ASOs oder Small Molecules findet ein alternatives Spleißen des SMN2-Gens statt, weswegen es mehr funktionsfähiges SMN-Protein herstellen kann.
Weitere Informationen zur medikamentösen Therapie von SMA findest Du bei der DGM.
Neben der zielgerichteten medikamentösen Behandlung von SMA spielen aber auch SMN-unabhängige Behandlungsansätze in Kombination mit einer SMN-spezifischen Therapie eine Rolle.22 Beispielsweise können Skelettmuskulatur-schützende Behandlungen dazu beitragen, die Krankheitsprogression zu verlangsamen und so weitere, nicht unmittelbar mit SMA zusammenhängende Komplikationen zu vermeiden.23
Die Physiotherapie ist ein essenzieller Bestandteil bei der Behandlung von SMA und verfolgt mehrere Ziele (s. Abb. 3).1,24 Hauptziel der Physiotherapie ist es, die größtmögliche Selbstständigkeit und Beweglichkeit im Alltag zu erhalten. Dabei orientiert sie sich an dem aktuellen Befund und den individuellen Bedürfnissen sowie Lebensumständen eines jeden SMA-Patienten.24
Abb. 3: Aufgaben der Physiotherapie
Eine Psychotherapie kann eine unterstützende Maßnahme bei der Therapie von SMA sein – sowohl für Betroffene als auch für Angehörige. Manchmal hat es eine befreiende Wirkung, mit jemandem Unbeteiligten über die entstehenden Herausforderungen oder die Erlebnisse im Alltag zu sprechen. Wichtig ist jedoch, dass die Gespräche mit einem Psychologen auf freiwilliger Basis stattfinden, da sie sonst Stress und Unbehagen auslösen können. Zudem ist es hilfreich, wenn der Psychologe bereits Erfahrungen mit chronischen Erkrankungen hat und, im Falle eines betroffenen Kindes, den Umgang mit Kindern gewohnt ist.
Im Vordergrund der Ergotherapie steht die Förderung der Handlungskompetenz des SMA-Betroffenen: Die vorhandenen Fähigkeiten sollen möglichst lange erhalten bleiben. Die Behandlung findet so alltagsnah wie möglich statt, um Patienten und Angehörige im täglichen Leben so gut es geht zu unterstützen. Dabei kann es auch Überschneidungen mit der Physiotherapie und Logopädie geben.25
Die Inhalte einer ergotherapeutischen Behandlung legen SMA-Patienten zusammen mit dem Ergotherapeuten und ihren Angehörigen fest. Um ein möglichst selbstständiges Leben zu ermöglichen, können verschiedene Maßnahmen zum Einsatz kommen.25 Diese können von der Beratung und Anpassung der Umgebung (Wohnumfeld, Schulplatz, Arbeitsplatz) sowie der Hilfsmittel an die Bedürfnisse der Betroffenen bis hin zu Strategien zur Erhaltung der Handlungskompetenz und zur Kompensation sowie dem Umgang mit persönlichen Belastungsgrenzen reichen. Auch die Beratung und Anleitung von Angehörigen kann Teil der Ergotherapie sein.
Die SMA beeinträchtigt auch die Atemmuskulatur, weswegen das Atmen und Abhusten von Sekreten schwerfallen kann. Betroffene sind daher anfälliger für Lungeninfektionen. Die Atemphysiotherapie aktiviert die Atmungsmuskulatur und vertieft die Atmung, verbessert das Durchblutungs- sowie Belüftungsverhältnis, mobilisiert Sekrete sowie deren Transport und bringt Betroffenen Hustentechniken bei. Deswegen ist eine gezielte Atemphysiotherapie und ein Bewusstsein für Atemübungen von Anfang an sehr wichtig, besonders für Patienten mit SMA Typ 1 und 2. Bei fortschreitender Atemschwäche kann der Patient auf bereits erlernte Techniken zurückgreifen und auftretenden Beeinträchtigungen besser entgegenwirken. Zur Atemphysiotherapie gehören verschiedene Maßnahmen, die Kinder auch problemlos spielend erlernen können.24
Ist die Belastung durch die geschwächte Atemmuskulatur zu hoch, kann es zu einer Sauerstoffunterversorgung in der Nacht und zu Tagesmüdigkeit kommen. Dann gibt es die Möglichkeit der häuslichen Beatmung. Meist erfolgt die Heimbeatmung mittels BiPAP-Beatmung (engl. Bilevel Positive Airway Pressure). Das Beatmungsgerät hat zwei unterschiedliche Druck-Niveaus, eines beim Einatmen und eines beim Ausatmen. Das beim Ausatmen ist niedriger, um das Ausatmen zu erleichtern.
Weitere Geräte, die SMA-Betroffene bei Atemschwäche unterstützen können, sind mechanische Unterdruck-Überdruckgeräte (erleichtern das Abhusten) und die Druckinhalation (IPP, verbessert die Belüftung der Lunge und erhält die Thoraxmobilität).24
Den Impfstatus im Blick behalten: Impfungen gegen häufige Erreger können Atemwegsinfektionen vorbeugen.
Viele SMA-Betroffene leiden an einer Wirbelsäulenverkrümmung (Skoliose). Diese kann die Atemfunktion und andere Körperfunktionen zusätzlich beeinträchtigen. Für eine Skoliose gibt es verschiedene Behandlungsmöglichkeiten. Ein stützendes Spezialkorsett kann für mehr Halt im Oberkörper sorgen. In schwereren Fällen kann auch eine Operation das Mittel der Wahl sein, wie das Einsetzen von stützenden Metallstäben oder von mitwachsenden Magnetstäben sowie eine Wirbelsäulenversteifung zur langfristigen Stabilisierung des Oberkörpers. Ärzte, Betroffene und Angehörige entscheiden gemeinsam, welche Maßnahmen am geeignetsten sind und wie das weitere Vorgehen aussehen soll.24
Die Logopädie kann sowohl bei Saug-, Kau- und Schluckstörungen sowie wie bei Sprech- und Stimmstörungen hilfreich sein. Ziel der Logopädie ist es, die Beweglichkeit der Zunge und der Kiefergelenke zu verbessern sowie die Gaumensegelschwäche zu reduzieren. Dadurch fällt nicht nur das Sprechen leichter, sondern auch die Nahrungsaufnahme. Denn schlechte Erfahrungen beim Essen und Trinken (zum Beispiel durch häufiges Verschlucken) können zu einer Nahrungsverweigerung und somit zu einer Mangelernährung führen. Durch die logopädischen Übungen werden das Essen und Trinken für die SMA-Patienten sicherer und angenehmer.24
Hilfsmittel sollen den Alltag erleichtern und bestimmte Körperfunktionen (teilweise) ersetzen oder unterstützen. Es gibt viele verschiedene Hilfsmittel, die SMA-Patienten nutzen können:25
Für ein passendes Hilfsmittel ist eine vorausschauende ergotherapeutische Beratung notwendig: Was ist das Ziel des Hilfsmittels und wie sieht die individuelle Situation des Betroffenen aus? Oft können SMA-Patienten ein Hilfsmittel erst einmal „testen“, bevor eine endgültige Anpassung an die persönlichen Bedürfnisse erfolgt.25
Auch Assistenzhunde zählen zu Hilfsmitteln. Sie werden speziell ausgebildet und sind treue Begleiter. Ein Assistenzhund kann Sachen aufheben und bringen, Türen öffnen oder schließen und sind nicht selten eine emotionale Stütze für ihr Herrchen bzw. Frauchen. Teilweise können sie aber auch komplexe Aufgaben übernehmen und überwachen so kontinuierlich den Gesundheitszustand des Patienten.
Weitere Informationen zu Hilfsmitteln findest Du im Hilfsmittelverzeichnis des GKV-Spitzenverbandes.
Komplementärmedizinische Methoden können die Schulmedizin ergänzen (im Gegensatz zur Alternativmedizin, die eine Alternative zur Schulmedizin darstellen soll). So können zum Beispiel Entspannungstechniken die Gelassenheit und das Wohlbefinden fördern.
Allerdings ist es äußerst wichtig, dass SMA-Patienten oder deren Angehörige sich mit den behandelnden Ärzten absprechen, wenn sie komplementäre Behandlungsmaßnahmen in Betracht ziehen oder bereits anwenden. Denn es können Wechselwirkungen zwischen der ärztlichen Behandlung und den ergänzenden Maßnahmen entstehen, welche die Therapie negativ beeinflussen können und so den Betroffenen eher schaden als nutzen.